Als die Biergläser neu geeicht wurden
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Als die Biergläser neu geeicht wurden


Von falschen Hasen, armen Rittern und Schusterjungen.
Von falschen Hasen, armen Rittern und Schusterjungen.

Dresden, 30.05.2023

Liebe Leser,

völlig neu ist unsere Rubrik "Genuss-Geschichten", die in einer ganz anderen Art auf die Kulinarik in unserer Region blickt und zum Schmunzeln einlädt.

Unser Autor Heinz Kulb lädt Sie in regelmäßigen Abständen zum Lesen dieser kleinen Geschichten ein und freut sich natürlich auch auf Ihr Feedback

 

Als der Kellner im Biergarten des Schillergartens in Blasewitz an diesem letzten Maientag des Jahres 1883 die Gläser Bier vor der Wandertruppe aus Meißen auf den Tisch setzte, schauten die drei Burschen etwas bedeppert drein. „Herr Kellner, die Gläser sind aber nicht richtig gefüllt“, maulte Richard. Der Kellner grinste. Es kannte diese Frage schon seit Beginn der Gartensaison. „Das sind 4/10-Liter-Gläser. Die sind neu seit drei Monaten. Und Sie zahlen auch nur die 0,4 Liter.“


Max, der Zweite am Tisch, blieb skeptisch. „Nicht, dass die uns um ein Zehntel bescheißen wollen, weil 0,1 Liter fehlen.“1 Der Dritte im Bunde, Siegfried, nickte zustimmend. Aber die Stimmung war erst einmal eingetrübt. Im Hintergrund setzte die Kapelle des Königlich-sächsischen Leib-Grenadier-Regiments Nr. 100 zum nächsten Marsch an.

Dabei hatte sich die Dreierbande extra für den Schillergarten entschieden. In den Zeitungen wurden der Garten selbst und die dort regelmäßig gastierende Ehrlich´sche Militärkapelle als besonders genussreich gerühmt. Erst kürzlich hatte das Etablissement sich einer Verschönerungskur und Erweiterung unterzogen. Und nun das mit diesen neuen Eichgläsern.


„Hoffentlich ergeht es uns nicht wie einigen Wiener Touristen in Berlin. Die wurden mächtig über den Tisch gezogen.“ Und Siegfried wollte das genauer wissen. „Die kamen vom dortigen Gemeinderat und wollten sich die Berliner Hygieneausstellung anschauen. Und anschauen macht bekanntlich Durst, nicht war Max?“ Der wurde puterrot, weil er gerade den schwankenden, mit schönen Kleidern überzogenen Hintern dreier jungen Damen einer intensiven Betrachtung unterzog.


„Wie ging die Geschichte weiter? Maaax, wir sind auch noch da!“, drängelte Siegfried. „`Schuldigung, murmelte dieser und wendete seinen Blick von den Damen ab und seinen Freunden zu. „Also. Der Tag war heiß und die Wiener blau. Als es zum Zahlen kam, waren diese mit einem Schlag wieder nüchtern.“ Max machte eine längere Pause, um die Ungeduld seiner Freunde in höchste Höhen zu treiben. Bevor sie ihn jedoch verprügelten, setzte er die Erzählung fort. „Da kostete doch ein Bier eine ganze Mark.“ (wären umgerechnet heute 8 €)3.


Richard hätte sich beinahe an seinem Bier verschluckt. „Das ist Wucher und eine echte Touristenabzocke. Wie haben nun des Kaisers Abgesandte reagiert?“ Max wusste Bescheid oder zumindest tat er so. „Als die zu einer Art Kneipenschlacht ansetzen wollten, zeigte der Kellner auf die Wand. Dort stand auf einer Schiefertafel in schönster Schreibschrift, dass ein Glas Bier für eine Mark zu haben sei. So zahlten sie denn im vollen Bewusstsein, dass nicht nur in Wien die Leute über den Tisch gezogen werden, sondern auch anderswo. Und wären die Wiener Gemeinderäte nicht so blind vor Durst gewesen, hätten sie ein paar Schritte weiter das Glas für 20 Pfennige (heute 1,60 € 3), was auch noch teuer war. Aber zurück zu der neuen Eichung der Gläser.2“


Hier im Dresdner Raum gab es bis 1883 Gläser mit dem halben-Liter-Zeichen, aber ohne Eichstrich. So wurden die Gläser bis zum Rand gefüllt, ohne dass man amtlich sehen konnte, dass wirklich ein halber Liter Bier im Glas waren. Nach der neuen Verordnung muss das Glas wirklich einen halben Liter Bier enthalten, wenn dies so drauf stand oder die neuen 4/10- Gläser mussten wirklich 4/10 Bier maßgerecht enthalten. Im Deutschen Kaiserreich gab es zudem sehr vielfache Gläserarten. Und die Preise waren recht unterschiedlich. Solange man damit zufrieden war, regte sich auch niemand auf. Das Problem war nur die Handelsspanne zwischen Brauer, Gastwirt, deren Bierausgeber (waren eine Art Selbständige, die die Menge an Bier von den Wirten käuflich erwarben und dann verkauften) und dem Preis, den das Publikum bereit war, zu zahlen.


Das mit den 4/10 Gläsern wäre dann das nächste Problem. Millionen der alten 0,5-Liter-Gläser kämen auf den Müll. Ein Schaden sondergleichen.1


Und so kamen die Meißner Biertrinker und Wirte auf die geniale Idee, die Halb-Liter-Gläser auf 0,5 Liter zu eichen, mit amtlichem Eichstich zu versehen und nicht nur die Zahl willkürlich eingravieren zu lassen. Die Journalen waren voll des Lobes.


„Dresdner und Chemnitzer Wirte,

Geht in euch und tut dergleichen.

Lasst die Deppchen wie die Meissner

0,5 Liter mäßig eichen.

Dann wird man von euch auch sagen:

Ihr habt ehrlich dran getan

Dass ihr nicht noch wie so mancher

Kniptet ab den armen Mann.“1

„Siehste“, bemerkte Richard. „Wir können mehr als nur Porzellan zerdeppern und sauren Wein herstellen.“ Alles lachte und prostete sich fröhlich zu.

Schillergarten, 19. Jahrhundert, Postkarte
Schillergarten, 19. Jahrhundert, Postkarte

Anmerkungen des Autors

1 Der Calkulator, Nr. 567 von 1883

2 Dresdner Nachrichten 28. Mai 1883

3 Kaufkraftäquivalente historischer Beträge in deutschen Währungen, Deutsche Bundesbank, Stand März 2023

 

Eine GenussGeschichte von Heinz Kulb

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